In einem aktuellen Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Anwendung der Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG entschieden. Danach ist die Richtlinie nicht auf ein Produkt anzuwenden, dessen Eigenschaft als Funktionsarzneimittel wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist, ohne dass sie ausgeschlossen werden kann. Die Richtlinie gilt also nur für Erzeugnisse, deren Arzneimitteleigenschaft wissenschaftlich einwandfrei positiv festgestellt worden ist. (Urteil des EuGH vom 15. Januar 2009, Rechtssache C-140/07)
Mit der Frage, ob ein Produkt als Nahrungsergänzungsmittel oder möglicherweise als Arzneimittel ohne Zulassung einzustufen ist, haben sich verschiedene Gerichte bereits mehrfach beschäftigt. Zahlreiche Kommentare wurden zu den unterschiedlichsten Standpunkten veröffentlicht.
Auch die „Red Rice“-Kapseln wurden von der Bezirksregierung Lüneburg als Arzneimittel eingestuft und ihr Inverkehrbringen untersagt. Das Verwaltungsgericht hatte die Entscheidung der Bezirksregierung bestätigt. Das niedersächsische Oberverwaltungsgericht hatte in seiner Entscheidung das streitige Produkt nicht eindeutig, sondern „aller Wahrscheinlichkeit nach“ unter Hinweis auf die Zweifelsfallregelung des Art. 2 der Richtlinie 2001/83/EG als Funktionsarzneimittel eingestuft. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte im Revisionsverfahren Bedenken im Hinblick auf diese Auslegung der Zweifelsfallregelung. Es legte daraufhin dem EuGH entsprechende Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Der EuGH führt in den Entscheidungsgründen in Randziffer 25 und 27 aus, dass der Begriff des Funktionsarzneimittels diejenigen Erzeugnisse erfassen solle, deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt wurden und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Damit sei die Richtlinie nicht auf ein Produkt anwendbar, dessen Arzneimitteleigenschaft gemäß der Begriffsdefinition der Richtlinie nicht wissenschaftlich festgestellt wurde. Die Vorschriften der Richtlinie dürften nicht dergestalt ausgelegt werden, dass Behinderungen des freien Warenverkehrs entstehen würden, die völlig außer Verhältnis zu dem angestrebten Ziel des Gesundheitsschutzes stehen würden.
Die Zweifelsfallregelung ist also nicht als Vermutungs- oder Beweislastregel auszulegen, so dass den Behörden mit der Zweifelsfallregelung nicht die Klassifizierung von Produkten erleichtert werden soll, weil es sich im „Zweifel“ um ein Arzneimittel handeln soll.
Weiter wurde die Frage entschieden, dass die Dosierung für die Klassifizierung als Funktionsarzneimittel ausschlaggebend ist. Bei dem konkreten Produkt hatte die Kanzlei Sachs als Prozessvertreter vorgetragen, dass eine pharmakologische Wirkung der „Red Rice“-Kapseln bei der angegebenen Verzehrempfehlung auszuschließen sei. Der EuGH führt diesbezüglich aus, dass Produkte, die eine physiologische wirksame Substanz enthielten, nicht systematisch als Funktionsarzneimittel eingestuft werden könnten, ohne dass die zuständigen Behörden von Fall zu Fall jedes Produkt mit der erforderlichen Sorgfalt prüfen. Dabei müssten insbesondere seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften berücksichtigt werden, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen ließen. Damit könne ein Produkt nicht als Funktionsarzneimittel eingestuft werden, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung, einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe, und bei bestimmungsgemäßer Anwendung die menschlichen physiologischen Funktionen nicht in nennenswerter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen könne.
Nun muss sich das Bundesverwaltungsgericht erneut mit dem Fall der Red-Rice-Kapseln befassen. Die Anwaltskanzlei Sachs in Hamburg, die dieses Verfahren von Beginn an betreut hat, teilt dazu mit, dass das Bundesverwaltungsgericht auf Grund der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nur das Verfahren ausgesetzt hatte. Dieses Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht muss jetzt wieder aufgenommen werden. Das bedeutet, dass erneut vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt wird und erst dann ein Urteil ergeht, das über das Schicksal der Red-Rice-Kapseln entscheidet. Die Anwaltskanzlei Sachs teilt weiter mit, dass dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs den Behörden deutlich vor Augen geführt hat, dass die bisherige Behördenpraxis, nur auf Grund von Vermutungen Produkte als Arzneimittel einzustufen, der Vergangenheit angehört. In der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof wurde von Behördenseite auch der Kostenfaktor angesprochen. Denn die Verpflichtung der Behörden, in jedem Fall eine pharmakologische Wirkung nachweisen zu müssen, verursacht u. U. erhebliche Kosten. Hierzu teilen die Rechtsanwälte Sachs mit, dass dieser Kostenaspekt vom Europäischen Gerichtshof mit dem Argument, dass dieser Aspekt nichts zu Sache tut, verworfen worden ist. (cs, 2009)